Wulfhard v. Grüner                                      

Zum Stichwort Behinderung: “ Wir alle sind behindert“/1/

Wir alle sind behindert und bleiben aus den verschiedensten Gründen und in unterschiedlichem Maße hinter unseren potentiellen Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten zurück.Dies hat unterschiedliche Ursachen. Sie können schon genetisch bedingt sein, auch eine Folge äußerer Gewalteinwirkung oder von Umweltschäden. Vielleicht sind wir „verrückt“, indem unsere Hirntätigkeit nicht den Standards entspricht. Wir Menschen sind aber auch geprägt durch die soziale Situation, in der wir leben bzw. aufwuchsen. Hieraus folgen nicht nur Schädigungen für die benachteiligten unserer Gesellschaft, sondern auch für die privilegierten, die dann bestrebt sind, den Status quo zu erhalten oder besonderen Eigennutz zu entwickeln. Für alle gilt, dass einengende Denkmuster an der Ganzheitlichkeit hindern. Dies hat auch eine geschlechtsspezifische Seite. Frauen können diskriminiert sein; sexuell „anders“ veranlagte Menschen können diskriminiert sein. Auch die Art und Weise der erlebten schulischen Bildung und Erziehung beeinträchtigt uns, weil die Institution Schule oftmals ungewollt oder infolge gesellschaftlicher Orientierungen hinter anthropologisch oder „hirntechnisch“ belegbaren Gesetzen bleibt, z.B.an das natürliche Neugierverhalten der Kinder oft nicht anknüpft. So verweigern sich viele Kinder und Jugendliche, lernen zu kompensieren, „hängen ab“ oder werden zu kleinen bzw. jungen „Terroristen“. Wir Erwachsenen sind beschränkt infolge unserer meist einseitigen Arbeit – wenn wir denn Arbeit haben – und außerdem von einem Wust an Schund aus den Medien, der unterhalten soll, aber auch manipuliert und viel Zeit kostet, hierbei von unseren Kindern noch übertroffen. Dies trifft auch auf den Missbrauch von Computern zu , eigentlich doch eine bewundernswerteTechnik.                                                                                                          Psychische Störungen häufen sich infolge von Reizüberflutung und Hetze im Alltag, wohl auch schon wegen der unbewussten Aufnahme beeinflussender bzw. schädlicher Stoffe mit der Nahrung. Kinder sind oft hyperaktiv, wogegen die traditionellen Disziplinierungsversuche kaum helfen. Geistige Sammlung ist erschwert. Wir versuchen abzuwehren oder zu verdrängen. Ich denke an Tendenzen, wie das Ignorieren von Gefühlen, negative Bewertungen auch eigener Leistungen, ständige Lustorientierung oder die Erwartung umgehender Therapiewirkung von außen ohne eigene Änderungsbereitschaft, wenn wir überhaupt bei einer Therapie ankommen. Bei allem entwickeln wir zweifelhafte Ansprüche. Wir wollen bei der „Meute“ bleiben, folgen manipulierten Trends und dann dem Drang „Das will ich auch haben“! Auf der Suche nach Genüssen oder auf der Flucht vor der Realität nehmen wir „ungesunde Wirkstoffe“ ein. Im Durchschnitt werden wir trotzdem alt und älter, besonders die Frauen. Aber im Alter bröckelt manches, und so mag uns auch aus Altersgründen Behinderung treffen. Natürlich mischen und potenzieren sich diese biologisch-genetischen, weltanschaulichen, gesundheitsbedingten, sozialen, pädagogischen oder manipulierten Begrenzungen mit ihren historischen Wurzeln auf vielfältige Weise, bringen tragische Verknüpfungen hervor, lassen aber auch therapeutische Ansatzmöglichkeiten und Herangehensweisen ahnen.

Definieren wir Behinderung also weit, so bedeutet dies, dass wir hinsichtlich körperlich-sinnlicher Leistungen, unseres Denkvermögens, des Umgangs mit Gefühlen, unserer Lebensziele sowie der Lebensgestaltung hinter unseren potentiellen Möglichkeiten zurück bleiben. Behinderung heißt dann: Wir wurden oder werden nicht, was wir werden könnten!

In unserem Alltag denken wir allerdings bei dem Begriff „Behinderung“ eher weniger an unsere Begrenztheit in all ihrer Vielfalt, was uns tolerant machen sollte, sondern an Behinderung in einem engeren Sinne, was mit wohlwollender Herablassung , wenn nicht mit Diskriminierung von Menschen einhergeht, die nicht einer gesellschaftlich gewachsenen und durch Mehrheiten getragenen Norm entsprechen, die nicht „normal“ sind, die gegenüber dieser Norm anders oder auch nur von woanders sind…

Anmerkung:

1) Teil eines unveröffentlichten Vortrags während des Musik- und Kunstfestivals der DMVS e.V. im Juni 2008 in Sondershausen.