„6 Frage und 6 Thesen zum Thema“         Wulfhard v. Grüner

  1. Was meint Erziehung?

 Erziehung oder Beziehung – diese Frage regt zwar zur Auseinandersetzung an, bedeutet aber keinen echten Gegensatz. Offenbar werden problematische Erziehungspraktiken im Sinne von Einwirkung angenommen und der Beziehung entgegengestellt, wie wir sie in unserer Lebenspraxis als bedeutungsvoll für die menschliche Entwicklung erleben. Fassen wir den Erziehungsbegriff aber weiter, so bedeutet er die Unterstützung und Förderung eines heranwachsenden Menschen, damit er sich sozial, eigenverantwortlich und erfolgreich verhalten lernt. Voraussetzung dafür ist, dass wir als historische Wesen mit einem Erbe ausgestattet sind, das freigesetzt und auf die Ergebnisse der Menschheitsentwicklung bezogen werden muss, die unser Lebensumfeld ausmachen. Dabei werden pädagogische und therapeutische Bemühungen nicht nur durch dieses Anliegen bestimmt, sondern auch durch traditionelle und institutionelle Einschränkungen, die dem Wesen der jeweiligen Gesellschaft entsprechen, wobei die menschlichen Beziehungen nicht genügend Beachtung finden.

  1. Wie funktioniert menschliches Lernen?

 Unser Gehirn entwickelt sich schon vor der Geburt, indem sich Nervenzellen bilden, deren Fortsätze Kontakte ermöglichen. Es spürt Signale aus dem eigenen Körper und dem der Mutter, was zu Vernetzungen führt, zu Wahrnehmungen, die im Stammhirn gespeichert werden und bestimmen, wonach wir künftig suchen.
Nach der Geburt braucht ein Kind die Gewissheit, angenommen und sicher zu sein, liebevolle Führung und Gelegenheiten, das Angelegte zu entwickeln, d.h. die genannten Vernetzungen zu stabilisieren und zu erweitern. Es kommt darauf an, dass es die Welt selbstbestimmt und in eigenem Tempo erschließen kann und dass es in Gemeinschaften hineinwächst, wo es Vorbilder und Beispiele erlebt. Förderlich sind freies Spiel, absichtsloses gemeinsames Singen, Musizieren, Tanzen, Malen, Basteln und Märchenstunden, also eher „nutzlose Tätigkeiten“. Bedeutungsvoll ist die Freude am Entdecken, besonders wenn sie mit einer Beziehungsperson geteilt werden kann. So werden emotionale Netzwerke aktiviert und Speicherungen der Selbstwirksamkeit im Frontalhirn angelegt, was allerdings durch Nachfrage bestätigt werden muss, damit Vertrauen in die Welt und die eigenen Möglichkeiten wachsen kann /1/.

  1. Was steht im Wege?

 Nicht alle Kinder machen die Erfahrung liebevoller Geborgenheit, indem schon Grundbedürfnisse wie Hunger, Durst oder Wärme nicht befriedigt werden. Vielleicht suchen Eltern oder Bezugspersonen auch ihre eigenen Wunschbilder zu realisieren, wobei gesellschaftliches Grundverhalten durchschlägt. Nicht selten geht es hier um „Leistung“ als heilige Kuh, die scheinbar notwendige Art der Vorbereitung auf unsere „Leistungsgesellschaft“. Niemand kann natürlich wollen, dass unsere Kinder nichts können! Leistungsvermögen und Leistungswillen werden aber auf diese Weise nur eingeschränkt entwickelt. Die kindliche Begeisterungsfähigkeit wird durch Personen beeinträchtigt, welche zu wissen glauben, was wichtig ist, die das Kind belehren, seine Aufmerksamkeit lenken, mit Vernunft argumentieren, seine Entdeckungen klein reden oder es als Ausstellungsstück missbrauchen. Infolge derartiger Einwirkungen, oft auch nach Ruhigstellung mit Medikamenten, mag das Kind nun „funktionieren“. Es ist aber weniger begeisterungsfähig und traut sich Nichts zu. Es verschließt sich gegenüber Eltern und Erziehern, sucht sich anzupassen oder Schuldgefühle zu erwecken. Dem dienen auch Belohnungen und Strafen, Belohnungen für Leistungen, die das Kind eigentlich nicht erbringen wollte und die es nun auf das Erlangen solcher Belohnungen orientieren. Beziehungsstörungen behindern dabei die weitere Verknüpfung von Nervenzellen und führen in der Folge zu weniger eigenen Erfahrungen, geringerer Aufmerksamkeit, Lernwiderstand und Aggressionen. Das Bedürfnis nach Kompensation wird von Medien und Spielzeugindustrie bedient, was letztlich der Erhaltung der bestehenden Gesellschaft und den Gewinnen ihrer Nutznießer dient.

  1. Welche Praktiken der DmvS arbeiten bereits mit dem Entwicklungsschwerpunkt Beziehung ?

 In der DmvS und ihrem Ausstrahlungsumfeld wurden – für uns schon selbstverständlich – bewährte Formen der Gruppenarbeit entwickelt, so die Instrumentalimprovisation, welche den Teilnehmern Gruppenentwicklungen, verschiedene Kommunikationsformen und Selbstwahrnehmung erleben lässt. Beim Gruppensingen erfolgt emotionale Stimulierung in einer Gemeinschaft, und die Regulative Musiktherapie (RMT) ermöglicht personen-, musik- und gruppenbezogene Wahrnehmungen. Gleichzeitig hatten sich entsprechende Formen des Leiter- bzw. Lehrerverhaltens herausgebildet, wobei der Leiter nicht in erster Linie eine vermittelnde oder kontrollierende Funktion hat. Er regt vielmehr an, setzt Impulse, steuert soziale Prozesse in der Gruppe und schützt vor Überflutung mit Gefühlen, vor Missbrauch von Informationen und destruktiven Aggressionen. Auf Kinder gerichtet finden wir bereits eine weitgehende Berücksichtigung der genannten wissenschaftlich begründeten hirnfunktionellen Ansätze in unseren Vorstellungen von musikalischer Vorschulerziehung als Teil der Musikalischen Elementarerziehung (MEE) /2/.
Auch für die Methodik des instrumentalen und vokalen Gruppenunterrichts trifft dies zu, geht es doch um die Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern, um frühes Gemeinschaftsmusizieren, Imitationslernen, Leistungen vor anderen und gemeinsame Aufgabenlösungen. Dies sind wichtige Wege des Lernens und der Persönlichkeitsentwicklung, zugleich grundlegende Voraussetzungen einer gezielten Leistungsförderung /3/.

  1. Sehen wir Möglichkeiten der Prävention?

 Geht es grundsätzlich um die Vermeidung destruktiver Herangehensweisen im Elternhaus, Kindergarten, in Schule und Musikschule, so entsteht bei bereits eingetretener Entwicklungsgefahr das Anliegen der Prävention.
Das Konzept der Sozialmusikalischen Gruppenarbeit (SMGA) bietet hier Möglichkeiten vorbeugender Verhinderung von Verhaltens- und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen und deren Persönlichkeitsförderung, d.h. eine Alternative zu entwicklungshemmenden gesellschaftlichen und familiären Einflüssen, wobei das Medium Musik einen sozialpädagogischen Einfluss unterstützen kann, wenn es als Kommunikationsmöglichkeit verstanden wird und nicht lediglich zeitbedingten Klischees und den Gesetzen des Musikmarktes folgt.
Die Herangehensweise erlangt dann Bedeutung, wenn phylogenetisch Angelegtes nur eingeschränkt realisiert werden konnte, die Sinneserfahrung zu häufig nur per Knopfdruck oder bloße Berührung über Bildschirme erfolgt und sich besonders Konkurenzorientierung, egozentrische Selbstverwirklichung und Gewaltbereitschaft anbahnen. Hier mag es auch um einen Mangel an Selbststeuerung gehen, um distanzloses oder selbstverletzendes Verhalten, um das Unvermögen, Nähe zuzulassen.
SMGA will nun Menschen über das Medium Musik zusammenbringen, innerhalb von Gruppen die Auseinandersetzung mit der eigenen Person anregen, emotionale und soziale Prozesse bewirken und entsprechende Kompetenzen ausprägen. Es wurden Arbeitsformen entwickelt, die eigenständig gegenüber Frontalunterricht und leistungsorientiertem Einzelunterricht sind und auch nicht vordergründig auf musiktherapeutische Wirkungen im Sinne von Psychotherapie zielen. Präventionsarbeit sollte im Sinne von Persönlichkeitsentwicklung auf bereits dargestellt Ansätze zielen /4/.

  1. Welche Lösungsansätze sind abzuleiten? (Zusammenfassung)

– Ein Kind braucht die Gewissheit, angenommen und sicher zu sein, liebevolle Führung und Gelegenheiten, das Angelegte zu entwickeln. Es sollte sich die Welt selbstbestimmt und in eigenem Tempo erschließen können, dabei die Freude am Entdecken mit Bezugspersonen teilen und in Gemeinschaften hineinwachsen, wo es Vorbilder erlebt.

– Dies kann sich über Gruppenarbeit und entsprechendes Leiter- bzw. Lehrerverhalten realisieren, im Einzelnen über Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern und zum Gruppenleiter, Leistungen vor anderen, gemeinsame Aufgaben, verschiedene Kommunikationsformen, Wahrnehmungsdifferenzierung, emotionale Stimulierung und andere Erfahrungsgelegenheiten /5/.

Anmerkungen:

  1. Zu These 1 und 2 vgl. Hüther, Gerald: Jedes Kind ist hochbegabt, Thalia 2012.
  2. Grüner, Wulfhard von: Über Musik und ihren anderen Sinn, Wagner Verlag Gelnhausen 2007, S. 113 ff.
  3. a.O. S. 133 ff.
  4. John, Dietmar: Sozialmusikalische Gruppenarbeit als Prävention, Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen 2013.
  5. Heinrich Jacoby verwendet den Begriff der Erfahrungsgelegenheiten in: Jenseits von Musikalisch und Unmusikalisch, Hamburg 1984.

Fortsetzung:

Die Spannung der Thematik bewirkte weitere Beschäftigung mit einschlägigen Fragen des Umgangs mit Kindern, auch im Sinne der Abarbeitung eines gewissen Unwohlseins infolge der o.g. vorläufigen Ergebnisse und in einer weiter gefassten Thematik mit modernen Denkweisen, also kaum wissenschaftlich begründeten Annahmen (1), Erscheinungen von Überbehütung , hysterischer Förderabsicht und Schulproblemen (2), schließlich der Entwicklungsgrundlagen (3). Wie kommt es also überhaupt erst zu den in oben genanntem Beitrag „schwierigen Kindern“?

1.) – Erziehung und Anforderungen an Kinder werden oft negativ bewertet, auch Disziplin, Autorität, Wettstreit und das Tainieren von Fertigkeiten. Ermahnungen gelten fast als Kindesmisshandlung.

– Wir sind nicht alle gleich. Es geht eher um Gleichwertigkeit, um Entwicklungschancen bei aller Ungleichheit. Dies würde auch die Geschlechtsunterschiede betreffen.

– Kinder sind eher robust und nicht so zerbrechlich, wie mitunter dargestellt. Hinterlässt eine Ungerechtigkeit stets tiefe Wunden? Die Medien bewirken zudem eine Überschätzung von Gefahren.

2.) – Kinder sind oft überbehütet. Schon während der Schwangerschaft soll eine nicht immer begründete Stimulierung erfolgen. Es dominiert ein weitgehendes aber nicht differenziertes Verständnis von der Notwendigkeit ihrer Bindungen.

– Viele Eltern, oft selbst eine „Jugendkultur“ lebend, erscheinen unsicher bei ihrem Umgang mit Kindern. Sie streben nach „Selbstverwirklichung“;   ihre Kinder haben zu wenig Schlaf, viele Rechte und keine Pflichten. Andere wirken als „Helikoptereltern“, die eine übertriebene Förderung praktizieren oder als „Tigermütter“, welche die Kinder nach ihren Erwartungen drillen.

Die Schule leidet unter wissenschaftlichen Defiziten hinsichtlich der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns und traditionell eingeschränktem vordergründig leistungsorientiertem Umgang mit den Schülern und wird auch nicht selten durch abwegige Elternaktivitäten bedrängt. Trotz individualistischer Denkweisen der Eltern soll der Staat nun aber „alles richten“.

3.) – Die Reihenfolge der kindlichen Bedürfnisse sind Nahrung, physische Geborgenheit, Liebe und soziales Beisammensein; dann erfolgt die Entwicklung ihres Selbstwertgefühls. Wichtig ist ihr Spiel mit anderen Kindern, besonders freies Spielen, Spielen mit sich selbst und Lernen am Beispiel der Erwachsenen; auch Langeweile kann produktiv sein.

– Kinder sind kein unbeschriebenes Blatt. Sie bringen genetische Voraussetzungen mit. Erst auf dieser Grundlage wirken dann Elternhaus und Erziehung der Eltern, überhaupt die „Umgebung“, der Gruppendruck sowie das Spielen mit Gleichaltrigen und die Computer…

– Sie haben einen natürliche Wissensdurst und sammeln beim Lernen Eindrücke, die im Gehirn gespeichert werden. Ihre Entwicklung vollzieht sich in Stadien. So können Kleinkinder einen Sachverhalt noch nicht von verschiedenen Seiten betrachten. Sie befassen sich nur mit jeweils einer Sache. Die vielen Diskussionen können sie also überfordern. Kinder sind zwar kleine Menschen aber keine kleinen Erwachsenen, da ihre Hirnzellen noch nicht spezialisiert sind. Die Hirnteile reifen zudem nicht zeitgleich; Emotionen sind zunächst begünstigt.

– Heute haben Kinder zwar einen gestiegenen IQ, auffällig sind aber die zunehmenden Diagnosen psychischer Erscheinungen; Mädchen tun sich öfter als früher „etwas an“, Jungen zeigen mehr Schwierigkeiten, schulischen Anforderungen zu genügen. Obwohl die Kinder meist „alles haben“ sind sie oft unzufrieden und nicht vorbereitet auf das Leben in unserer Gesellschaft.

Literatur: David Eberhard (schwedischer Autor): Kinder an der Macht; Kösel-Verlag 2015

Der Beitrag wurde angeregt durch die Ausschreibung der gleichnamigen Tagung der DMVS e.V. im November 2014 in Bad Klosterlausnitz.