Carl Wilhelm für Wikipedia

Wulfhard v. Grüner

Carl Wilhelm, ein Komponist aus Schmalkalden /1/

Die Kompositionen Carl Wilhelms (1815 – 1873) sind wenig bekannt. Es handelt sich um anspruchsvolle Männerchöre, gemischte Chorsätze, Lieder und Gesänge für Singstimme und Klavier, Klavierstücke, Märsche und eine Sonatine für Violine und Klavier.

Eines seiner Lieder gelangte aber zu großer Berühmtheit und nationaler Bedeutung, die “Wacht am Rhein”. Der Text Max Schneckenburgers war vor dem Hintergrund aggressiver französischer Politik 1840 entstanden und wurde 1854 von Wilhelm vertont und zunehmend oft gesungen. Zu einer gewaltigen Verbreitung und hohen politischen Bedeutung des Liedes kam es jedoch erst in Zusammenhang mit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, wo es zu einem deutschen Nationalgesang wurde, bald aber mit nationalistischen Bestrebungen verknüpft, was nicht den Intentionen des Komponisten entsprach und ein einseitiges Wilhelmbild beförderte.

Die Betrachtung Wilhelms, seines Lebensbogens und seines Gesamtwerkes brachte eine Reihe von Erkenntnissen bis zu Gedanken zum heutigen Umgang, welche dieses einseitige Bild modifizieren können.

 1. Erkenntniszuwachs besteht im Verständnis des Lebens und Wirkens eines Musikers aus dem 19. Jahrhundert, zunächst geprägt durch Lebensweise und Musikpraxis seiner Heimatstadt Schmalkalden, wo er am 5. September des Jahres 1815 geboren wurde. Bedeutende historische Ereignisse waren damals im Bewusstsein des Volkes, napoleonische Kriege und Besatzungszeit, freiheitliche und nationale Bestrebungen sowie die Restauration der Fürstenherrschaft, was Schmalkalden als hessische Enklave betraf (Kurhessen). Bemühen um die deutsche Einheit aber auch der Machtzuwachs Preußens und das Aufkommen des Industriekapitalismus schufen weitere Bedingungen. Der musikgeschichtliche Hintergrund bestand in klassischen Grundlagen und romantischen Erscheinungen.

2. Von Interesse mag die musikalische Ausbildung sein, die Wilhelm erfuhr, zunächst bei seinem Vater, der Stadtmusikus in Schmalkalden war und demörtlichen Kantor, dann ab 1832 in der Landeshauptstadt Kassel. Seine Lehrer waren dort der Hofmusikus Anton Bott sowie der 2. Kapellmeister und Kantor Baldewein. Er wurde angeregt durch das Wirken des Hofkapellmeisters Ludwig Spohr.
1835 wechselte Wilhelm nach Frankfurt/Main, wo er bei dem berühmten Klavierpädagogen Alois Schmitt Unterricht hatte, während Johann Anton Andre´ den theoretischen Teil der Ausbildung übernahm, Komponist, Pianist und Verleger in Offenbach. Bedeutungsvoll wurden für ihn die Werke Robert Schumanns und persönliche Kontakte zu Clara Schumann, dem Dichter Hoffmann von Fallersleben und vielleicht auch zu Felix Mendelssohn Bartholdy.

3. Wir erhalten Einblicke in das bürgerliche Musikleben der damaligen Zeit, war doch Wilhelm 1840 einem Ruf in die aufstrebende Industriestadt Krefeld gefolgt, wo er ein Jahr darauf die dortige “Liedertafel” übernahm, später auch den “Singverein”, einen gemischten Chor. Zudem wirkte er als Gesangslehrer an der höheren Töchterschule der Stadt. Er fand zahlreiche Klavierschüler und gute Kontakte zu den Zentren der bürgerlichen Hausmusik. Hervorzuheben sind seine Aktivitäten für die niederrheinischen Musikfeste und den “Rheinischen Sängerverein”. Ungeachtet der Verehrung von Krefelder “Damen” für den interessanten Pianisten und Improvisator gibt es keine Hinweise auf Liebesbeziehungen.

4. Der plötzliche Rückzug nach Schmalkalden im Jahre 1865 deutet auf gesundheitliche, insbesondere psychische Probleme, verbunden mit einem zeittypischen “Weltschmerz”. Carl Wilhelm starb dort zurückgezogen am 26. August 1873 nach späten aber für ihn problematischen Ehrungen, welche seinem berühmten Lied zu danken waren. Von Kindheit an scheu und verschlossen, fielen zunehmend schwankende Stimmungen und einsame Grübeleien auf. Hatte er eine schizoide Grundstruktur? Beeinträchtigten autistische Elemente die Realisierung menschlicher Nähe und das Interesse an der Alltagswelt? Jedenfalls kam es zu depressiven Neigungen aber auch zu weitreichendem Fühlen und phantasiereichem Denken.

5. Das “Schicksal” seines Männerchores “Die Wacht am Rhein” lässt uns nach Wilhelms Verhältnis zum Politischen fragen. In kleinbürgerlichen Verhältnissen in Schmalkalden aufgewachsen, verinnerlichte er bald die Rolle der Musik im städtischen Leben. Auch in der Residenz Kassel lernte er nicht nur die Hofmusik, sondern einen lebhaften städtischen Musikbetrieb kennen. Sein Aufenthaltsort Frankfurt war eine ausgeprägte bürgerliche Metropole, und in Krefeld traten Unternehmerkreise als Auftraggeber und Förderer der Musik auf, mit denen er in persönlichem Kontakt stand. Er verkehrte damit in Kreisen bürgerlicher Liberaler, die gegen feudale Rückständigkeit und für ein einheitliches Deutschland eintraten, bedeutungsvoll für den politischen Standort Wilhelms, wenn sein “Reich” auch die Musik war. Wilhelm war einerseits auf die sich ihm bietenden Schaffensmöglichkeiten verwiesen, andererseits durchdrungen von Phantasien und Sehnsüchten, von dem Willen, zum Gemeinwohl beizutragen und erfüllt von einem deutschen Nationalgefühl. Zumeist wirkten seine Kompositionen aber nicht politisch vordergründig, sondern eher indirekt, in romantischer Weise. Seine patriotische Gesinnung zeigte sich aber auch direkt, etwa bei seinem “Wrangelmarsch” oder der Vertonung von Texten des Burschenschaftlers Karl Follen und der Dichter Georg Herwegh, Karl Ritterhaus und Hoffmann von Fallersleben.

6. Wilhelm erlangte eine bemerkenswerte künstlerische Bedeutung. Er war ein trefflicher Klavierspieler, ein befähigter Dirigent und ein anspruchsvoller Komponist. Als Pianist besaß er die Gabe der Improvisation. Als Dirigent verstand er es, genau einzustudieren und die Sänger zu fesseln. Mit seinen Kompositionen reagierte er sensibel auf menschliches Fühlen. So gehen seine Lieder mit ihren Gegenständen Natur, Liebe, Geselligkeit, Heimat und Vaterland bis zu Todessehnsucht vermittelt auf gesellschaftliche und soziale Situationen zurück. Wilhelms Begleitung ist souverän. Der Pianist schöpft aus dem Vollen, ohne jedoch allzu virtuos und dominant zu werden. Insgesamt zeigt er kassizistische und romantische Züge, sowie mit “Wein, Weib und Gesang” auch Merkmale des Biedermeier.

7. Was sind seine Kompositionsmerkmale? Auffällig ist die reiche, frei angewandte Harmonik besonders seiner Chöre, typisch für seine Zeit, sich aber auch zu einem persönlichen Stil verdichtend, der oftmals der Textausdeutung dient. Nicht selten finden wir stille Schlüsse, gelegentlich auch Ostinati und Tonmalerei. Wilhelm traf mit seinen sangbaren gefälligen Melodien oft den Volkston, womit er über Mendelssohn Bartholdy und dessen Lehrer Carl Friedrich Zelter, auch über seinen Lehrer und Verleger Johann Anton Andre´ und dessen Vater Johann Andre´ noch der 2. Berliner Liederschule nahe bleibt, jedoch auch den begleiteten Sololiedern und Chören von Ludwig Spohr, Robert Schumann oder Robert Franz.

8. Die Hauptverdienste Wilhelms bestehen darin, durch seine Kompositionen und die Leitung der “Liedertafel” in Krefeld, das Niveau des Männergesangs gehoben zu haben, sich abgrenzend von seichten und unkünstlerischen Tendenzen. Dieses Bemühen spricht auch aus der Instrumentalmusik, und es verwirklichte sich besonders durch Veranstaltungen und Konzerte mit Werken von Ludwig van Beethoven, Mendelssohn oder Schumann. Sein kompositorisches Können beförderte die Entwicklung eines natürlichen und klaren Stils seiner Sololieder bei origineller Begleitung, was ihm seinen Platz in der Geschichte des deutschen Liedes sicherte. Zudem erwarb er einen Anteil an der großen Chorbewegung des 19.Jahrhunderts. Beim Umgang mit Wilhelms Hinterlassenschaft wird eine beispielgebende musikalische Wertorientierung deutlich. Er mahnt uns durch Leben und Werk angesichts heute wirkender Globalisierungs- und Medienerscheinungen zu kulturellem Anspruch. Neben noch inhaltlich aktuellen Teilen seines Werkes liegt eine Chance in historischem Hören, d.h. der Beachtung des gesellschaftlichen und lokalen Zusammenhangs sowie in Bearbeitungen für praktikable Besetzungen.

Anmerkung: Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Zusammenfassung der Veröffentlichung des Autors in Band 3 der Schmalkaldischen Geschichtsblätter Seite 93 – 162: „Könnt ich ein Vogel sein; Carl Wilhelm, Komponist aus Schmalkalden“. Der Artikel enthält umfangreiche   Anmerkungen und Quellenangaben. Vgl. zudem die Veröffentlichung zu Carl Wilhelm im Krefelder Jahrbuch „Die Heimat, Jahrgang 82, Seite 70 ff.. Das Stadt- und Kreisarchiv Schmalkalden besitzt 4 kopierfähige Auswahlhefte, welche die nächsten Aufführungen ermöglichen und anregen sollen: Männerchöre, Begleitete Sololieder, Klavier- und Instrumentalmusik sowie Gemischte Chöre und Bearbeitungen.